Barbesucher

Einen Augenblick wähnte ich mich in einem Traum, denn es schien schlicht zu schön, um wahr zu sein: Ein Dieb auf der Flucht, der zwar – seines Wissens nach – sämtliche Verfolger abgeschüttelt hatte, dafür aber durch einen Wald stolperte, ohne Orientierung, ohne die leiseste Ahnung, wo er sich befand; und dann taucht zwischen den Bäumen ein Gebäude auf, und zwar nicht irgendein Gebäude, sondern eine Taverne, nein, eine Bar. Und, ganz ehrlich, wenn ich in diesem Moment, nach stundenlanger Hetzjagd, eines brauchte, dann war es ein Barhocker und ein Fass Bier.
Als hieß es: Eintreten, an die Theke setzen und dem Inhaber mit einem Wort verständlich zu machen, was ich wollte: „Bier.“ Womit ich nicht gerechnet hatte, war, was darauf folgte.
„Gibt's nicht“, murrte der Wirt, wischte ein filigran wirkendes Glas ab und löcherte mich mit seinen Blicken.
„Es gibt kein Bier?“ Zu Sicherheit fragte ich nach, konnte schließlich sein, dass der Mann sich versprochen hatte.
„Hier gibt’s nur Cocktails, Kleiner. Also, was darf's sein?“
Trotz – oder gerade wegen – des ernsten Blicks des Barkeepers konnte ich nicht anders, als leise zu kichern. „Alter, das hier ist eine Bar, richtig? Und in einer Bar gibt es keine weibischen Cocktails, sondern männliches Bier, Whisky, Rum, Wodka...“
„Cocktails“, lautete die grimmige Antwort. Nach einer gefühlten Ewigkeit im kalten Wald konnte ich mir schöneres vorstellen, als mich mit diesem Bär von einem Mann zu streiten, also lenkte ich seufzend ein. „Nun gut, geben Sie mir den hochprozentigsten Cocktail, den Sie haben.“ Ein knappes Nicken und ein paar Sekunden später, schon hatte ich eines dieser zerbrechlichen Gläser vor mir stehen, mit grüner Flüssigkeit als Inhalt. „Besser als nichts“, schoss es mir durch den Kopf und ich wagte einen Schluck – das Zeug war furchtbar sauer, aber glücklicherweise schmeckte ich ein wenig Alkohol durch. Jetzt, da zumindest die Aussicht auf Angetrunkenheit in greifbare Nähe gerückt war, nahm ich mir die Zeit, die Leute in der Bar zu begutachten.
An den Tischen saßen die verschiedensten Personen, angefangen von Menschen in Anzügen, die aussahen, als wären sie direkt aus der Bank hierher spaziert, bis hin zu Männern, die den Anschein erweckten, den ganzen Tag im Wald Bäume gefällt zu haben, mit Armen, die einen glauben ließen, sie würden für diese Arbeit nicht einmal eine Axt oder eine Säge brauchen. Insgesamt war die Bar gut besucht; bis auf zwei Tische waren alle besetzt und auch an der Bar saß außer mir noch jemand. Ich beobachtete ihn von der Seite, während ich an meinem Drink nippte und sprach ihn schließlich an. „Was geht, Alter?“
Der Mann, der ausgesprochen jung und gepflegt aussah, mit zurückgegeltem Haar und sauberer Kleidung, wartete einige Sekunden, erst dann wandte er sich mir zu und fragte mit überraschter Miene: „Reden Sie mit mir?“
Schon wieder musste ich kichern. „Ja, tatsächlich.“
„Oh, verzeihen Sie bitte, normalerweise werde ich nicht 'Alter' genannt, deswegen nahm ich irrtümlicherweise an, Sie würden sich mit einem unsichtbaren Kameraden unterhalten.“ Während ich ihn verwundert anstarrte und zu einer Antwort ansetzte, grinste er mich an und beim Anblick seiner ungewöhnlich langen und spitzen Eckzähne durchlief mich ein Schaudern, das meinen vorbereiteten Satz verpuffen ließ. „Schicke Zähne“, bemerkte ich tonlos.
„Vielen Dank.“ Der Fremde prostete mir zu. „Ihre sind ebenfalls zauberhaft.“
„Danke.“ Entweder war in diesem grünen Zeug, das ich nun umso schneller in mich hineinschüttete, mehr Alkohol als ich dachte, oder dieser Typ war schlicht verrückt und verkleidete sich jeden Tag als sei Halloween. „Noch einen“, teilte ich dem Barkeeper mit und der nächste Cocktail befeuchtete meine Kehle.
„Mundet es Ihnen?“, fragte mein Sitznachbar.
Ich brummte irgendetwas Unverständliches. Erst jetzt fiel mein Blick auf das Getränk, das der Typ trank und das – wie sollte es anders sein – von blutroter Farbe war. „Ist das Tomatensaft?“, wollte ich wissen, in der Hoffnung, er würde es bejahen.
Was er natürlich nicht tat. „Gott bewahre!“, lachte er. „Tomatensaft! Sie sind wirklich ein Scherzkeks. Hier gibt es doch nur Cocktails! Selbstverständlich ist das Bloody Mary.“
„Oh, ja, selbstverständlich.“
„Ganz unter uns: Es ist nicht das gewöhnliche Bloody Mary, sondern eine Sondermischung, wenn ich es so nennen darf“, flüsterte er mir im Geheimen zu.
„Lassen Sie mich raten: Ihr Drink ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Bloody Mary“, witzelte ich.
„In der Tat“, nickte der Schnösel. „Mit 2cl reinstem 0+, so wie ich es mag.“
Der Gedanke, den ich in diesem Moment dachte, war nicht sehr schwer zu erraten: Der Typ gehört in die Irrenanstalt! „Entschuldigen Sie mich“, sagte ich, stellte mein Glas ab und bewegte mich in Richtung WC. Dort wusch ich mir zunächst mit kaltem Wasser das Gesicht, dann wiederholte ich den Vorgang mit sehr kaltem Wasser.
„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“
Ich fuhr zusammen und drehte mich so schnell um, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor und nur dank des Waschbeckens vorerst keine Bekanntschaft mit dem Boden machen musste. „Sie haben mich erschreckt!“, entfuhr es mir. Vor mir stand ein junger Mann, der dem an der Bar nicht sehr unähnlich sah.
„Das tut mir Leid“, sprach er. „Ich war lediglich um ihre Gesundheit besorgt.“
„Mir geht’s gut, mir geht’s gut“, stammelte ich und strich mit der freien Hand durch mein Haar; mit der anderen hielt ich mich immer noch am Waschbecken fest. „Ich habe nur vorhin mit einem Typen gesprochen, der behauptete, in seinem Drink sei Blut. Ist das zu glauben? Dazu hatte er noch spitze Eckzähne – der macht einen auf Vampir.“ Nervös begann ich zu kichern.
Der andere lachte ebenfalls. „Ja, manchmal kreuzen hier Leute auf, die gerne Vampire sein wollen und für diesen Zweck die Blutcocktails trinken und sich falsche Zähne einsetzen. Das ist oft amüsant, zu Zeiten aber auch lästig, da auf diese Weise die leckeren Drinks viel zu schnell alle gehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Bei diesen Worten blieb mir nichts anderes übrig, als mich wieder umzudrehen und eine weitere Ladung Wasser in mein Gesicht zu spritzen, in der Hoffnung, die Wirkung des Alkohols würde endlich nachlassen – oder liefen hier wirklich Irre umher? Ein Blick in den Spiegel ließ mich aufschreien, umso mehr, als ich bemerkte, dass der andere immer noch im Raum stand. Allerdings hatte er kein Spiegelbild. Und lächelte mich jetzt unsicher an, sodass seine spitzen Eckzähne zu sehen waren. Mit einem weiteren Schrei flüchtete ich aus dem Toilettenraum und lief direkt in die Arme einer jungen Frau.
„Ist etwas passiert?“, fragte sie besorgt.
„V-vampire...“, stotterte ich und schrie ein drittes Mal, als ich die Zähne der Frau bemerkte – selbstverständlich ebenso spitz wie die der zwei Männer. Ich stieß sie von mich, blickte gehetzt in die Runde und brüllte: „Sind hier denn alle Vampire?!“
„Werd ma nich albern, Junge“, brummte einer der Holzfäller und erhob sich. „Ich bin keiner dieser verdammten Blutsauger, damit das klar is!“
„Ja!“, bestätigte einer seiner Tischkollegen. „Wir sind Werwölfe, klar?“
Jetzt stand auch noch einer der feinen Anzugträger auf. „Gestatten, Sensenmann von Beruf. Wir kümmern uns um jede Seele.“
Nach wortlosen Sekunden brachte ich schließlich einen Satz hervor: „Bin ich der einzig Normale hier?“
„Wenn ich etwas einwerfen dürfte“, sagte der Mann im Anzug mit einem Räuspern. „Sie sind einer von uns, ein Sensenmann. Vermutlich ist es Ihnen noch nicht bewusst geworden, aber das Amulett, das da um ihren Hals hängt, verwandelt seinen Träger augenblicklich in ebenjenen. Herzlichen Glückwunsch!“ Er lächelte mich begeistert an.
Ich starrte auf das Amulett, das ich erst heute erfolgreich gestohlen hatte und dementsprechend mit Stolz trug.. „Aber... aber... – Oh. Mein. Gott.“ Und mit diesen Worten fiel ich in Ohnmacht.

(c) by Karin D.

Diese Story war ursprünglich für einen Wettbewerb mit Titel Vampire Cocktail gedacht, allerdings wurde die Geschichte nicht rechtzeitig fertig und sie erschien mir sowieso zu kurz.