Das Tor zur Unterwelt

Raikan schwang sein Schwert und trennte mit dieser einen Bewegung den Kopf seines Gegners von dessen Schultern. Das Ungetüm wankte einen Moment, fand allerdings sein Gleichgewicht wieder und tappte weiterhin auf seinen Angreifer zu, als wäre nichts geschehen.
Ein wütendes Zischen entfuhr Raikans Kehle. Seine Kleider klebten bereits an seinem schweißgebadeten Körper, seine Klinge drohte ihm aus den Händen zu rutschen. Er wich einige Schritte zurück, nach Luft schnappend. Seit Stunden, so kam es ihm vor, kämpfte er bereits gegen diese Monster, gegen wandelnde Leichen und Gebeine – Untote.
Bis zu dem heutigen Tage hatte er diese Geschöpfe als Wesen aus Schauermärchen abgetan; nie hätte er erwartet, eines Tages gegen solch ein Ungetüm kämpfen zu müssen – oder gleich gegen eine ganze Armee lebender Toter.
Er strich sich mit der freien Hand eine Haarsträhne aus den Augen und atmete tief durch, bevor er zum nächsten Angriff ansetzte. Seine Annahme, dass diese Monster ohne Kopf hilflos wären, hatte sich offensichtlich als falsch herausgestellt. Nun, dann musste er sich eine neue Taktik überlegen.
Wie ein Berserker hieb er auf die Zombies und Skelette ein, die einen Kreis um ihn bildeten und mit jedem Augenblick ein Stück näher rückten. Viele hatten bereits ihre Arme und andere Körperteile verloren; dennoch hörten sie nicht auf, ihn zu attackieren. Sie fühlten keinen Schmerz, keine Erschöpfung, im Gegenteil zu Raikan. Er blutete aus unzähligen Wunden, war geschwächt und fühlte sich, als stünde er kurz vor dem Zusammenbruch. Sein Herz pochte gegen seine Rippen und er fragte sich, ob die Wesen ihn deswegen angriffen, weil er das hatte, wonach sich jeder Untote sehnte: ein pochendes, schlagendes Herz, Blut, das in seinem Körper zirkulierte, eine Lunge, mit der er Luft atmete und wieder ausstieß.
„Kommt nur her!“, forderte er die Monster auf. „Ich werde euch alle töten!“ Er glaubte nicht wirklich, dass sie ihn verstanden; er sprach nur, um eine Stimme zu hören, etwas jenseits des Singens seines Schwertes und des unmenschlichen Stöhnens seiner Gegner. Vor seinen Augen tanzten bereits einige Sterne. Vielleicht noch ein paar Minuten und es wäre aus mit ihm.
In solch einem Moment, in diesem Augenblick, wo es keine Hoffnung mehr zu geben scheint, dann, so hatte Raikan in Geschichten gehört, war ein Mann bereit, alles zu geben, auch seinen letzten Blutstropfen, um so viele Feinde wie möglich mit in die dunkle Schlucht des Todes zu stürzen.
Mit einem lauten Aufschrei sprang Raikan den Zombie an, der ihm am nächsten stand und hackte auf ihn ein, bis er nur noch aus vielen kleinen Einzelteilen bestand. Doch diese Aktion ermöglichte es den anderen Untoten, sich ihm noch mehr zu nähern, und er spürte die kalten Finger, die nach ihm griffen.
Jeden Moment den Tod erwartend dachte Raikan an seinen Freund, für den er dies alles hier auf sich genommen hatte. Sein bester Freund, der in seinen Armen gestorben war und ihm ein blutbeschmiertes Amulett in die Hand gedrückt hatte. „Hol mich zurück“, hatte er geflüstert, „bitte.“ Und dann war sein Körper erschlafft, seine Augen hatten jeden Glanz verloren und waren leer geworden.
Raikans Faust schloss sich um dieses Amulett, das er nun um den Hals trug; er schloss die Augen und beschwor noch ein letztes Mal das Bild seines Freundes herauf.
Als er verwundert feststellte, dass das Stöhnen um ihn herum gestoppt hatte, öffnete er sie wieder.
Alle Monster standen nur da und starrten ihn aus leeren Höhlen an. Untote, die ihn noch Sekunden zuvor zerfleischen wollten, wirkten nun wie Statuen. Einer von ihnen bewegte sich und Raikan zückte sein Schwert, bereit, weiterzukämpfen; aber das Wesen bedeutete ihm nur mit einer winkenden Hand, ihm zu folgen, und schlenderte davon.
Nach kurzem Zögern ging Raikan dem Skelett hinterher, während er sich misstrauisch umsah und die restlichen Untoten nicht aus den Augen ließ. Diese allerdings blieben dort stehen, wo sie waren, und rührten sich keinen Millimeter.
Das Skelett führte ihn über die staubige Ebene, auf der er vor einer Minute noch um sein Leben gekämpft hatte, zu einem Felsen mit einer Einfassung.
„Was ist das?“, fragte Raikan und seine Stimme klang in dieser Totenstille lauter denn je.
Das Skelett starrte ihn nur weiterhin an und plötzlich begriff Raikan. Er nahm das Amulett ab und steckte es in die Einfassung; es passte perfekt.
Das Amulett fing an zu leuchten, grün, schauerlich, und verströmte eine Kälte, die er nie zuvor gespürt hatte.
Das Tor zur Unterwelt öffnete sich.

(c) by Karin D.

DAM-DAM-DAM! Oh, was für ein Cliffhanger! Und nein, es gibt keine Fortsetzung, zumindest ist keine geplant. Da überlasse ich erstmal alles eurer eigenen Fantasie. Fakten zur Story: Sie war, wie ziemlich viele meiner Geschichten, für einen Wettbewerb gedacht, doch daraus wurde wie so oft nichts.