Der Eremit

Als ich an jenem Morgen aus dem Fenster sah, um, wie ich es häufig tat, den Sonnenaufgang zu bewundern, erwartete mich ein ungewöhnlicher Anblick, der meinen Herzschlag beschleunigte und mich in freudiger Erwartung – obgleich ich kaum zu hoffen wagte – zur Türe hinaus zerrte. Dort stand ich, die Hand auf meine Brust gedrückt, das schnelle Pochen spürend, und schaute in die Ferne, in der sich eine Gestalt abzeichnete, die langsam, doch beständig, näher kam. Konnte es tatsächlich er sein, der zurückkehrte, der nach all den langen Jahren den Weg zu mir zurück gefunden hatte, oder spielte mein Herz mir gar einen üblen Streich, dass es in dieser weit entfernten Figur ihn wähnte, wo es doch in diesem Moment keinerlei Gewissheit habhaft sein konnte? Je mehr Zeit verstrich, desto lauter, allgegenwärtiger wurden Stimmen des Zweifels in meinem Kopf; der Puls jedoch verblieb, wie er war. Als ich schließlich erkannte, wer auf mich zu kam, entwich meiner Kehle ein Laut der Erleichterung, die Stimmen verstummten und eine Träne sammelte sich in meinem Augenwinkel, die ich energisch fort wischte – er sollte mich nicht weinen sehen. Um Fassung bemüht erwartete ich ihn; er trat an mich heran, den Wanderstab in der Rechten haltend, ein Lächeln auf dem Gesicht. „Ich bin wieder da“, sagte er. Ich neigte kurz den Kopf, ohne mein Zutun hoben sich meine Mundwinkel und obwohl ich so sehr dagegen ankämpften, tropften die ersten Tränen von meinen Wangen. „Das ist schön“, brachte ich mit vor Freude bebender Stimme hervor. – „Heißt das, ich bin immer noch willkommen?“ Erneut nickte ich, konnte mich nicht mehr beherrschen und schlang meine Arme um ihn, drückte ihn fest an mich, weinte an seiner Schulter. „Du bist immer willkommen!“, schluchzte ich. Seine Hand streichelte meinen Rücken, um mich zu beruhigen und, was sollte ich sagen, es wirkte, es tat gut, es war das, wonach ich mich – unter anderem – all die Jahre seiner Abwesenheit gesehnt hatte; niemals sollte er aufhören, immer sollte seine Hand Kreise über meinen Rücken ziehen. „Wollen wir nicht hineingehen?“, flüsterte er in mein Ohr. Schon fast widerstrebend nickte ich das dritte Mal an diesem wunderschönen Morgen und ließ mich von ihm ins Haus geleiten. Als ich mich schließlich gefasst hatte, setzten wir uns am Tisch nieder – ich hatte die Möglichkeit gefunden, ihm all die Fragen zu stellen, die mir auf der Zunge lagen: Wo bist du gewesen?, Was hast du erlebt?, Wie ist es dir ergangen?, etc. Doch alles, was wir taten, war, uns anzusehen, der eine den anderen, und die Veränderungen mit den Merkmalen abzuwägen, die gleich geblieben waren. Sein Gesicht, vorher glatt, wies nun vereinzelt Falten auf, seine Haut war gröber, dunkler, seine Hände schwieliger, sein Körper kräftiger, muskulöser – seine Augen hatten ihren Glanz behalten. Äußerlich wies er viele Veränderungen auf – doch innerlich? Ob ich ebenfalls eine Andere geworden war? Das Schweigen, Betrachten währte lange, eine gefühlte Ewigkeit, dann kämpften sich folgende Wörter als heiseres Flüstern aus meinem Mund heraus: „Ich habe dich vermisst.“ Indem er sich auf seinem Stuhl leicht hin und her bewegte, vermutlich, um eine bequemere Position einzunehmen, sprach er mit verzeihungsheischender Stimme: „Ich bin auf einer langen Reise gewesen; ich lebte in den Bergen, alleine, war auf der Suche und fand schließlich eine Erkenntnis.“ – „Welche?“ Er sah mich mit einem durchdringenden und zugleich sanften Blick an, sein Mund streng und doch gleich gutmütig zu einem Strich verzogen, und antwortete ernst: „Glück findet der Mensch nur zu zweit.“

(c) by Karin D.

Diese Geschichte entstand hauptsächlich, um das Schreiben an sich zu üben und weniger, eine großartige Geschichte zu erzählen (sowieso passiert hier wieder kaum etwas).