Die Rache der Kazé

Ikyo unterschied sich von den anderen. Das wusste sie.
Aus ihrem Rücken ragten goldbraune Schwingen, die eines Falken ähnlich. Ihre Augen waren gelb, ihre Haut hell, ihre Haare hatten die Farbe ihrer Flügel.
Die Kikra dagegen sahen anders aus. Ihre Augen waren von einem warmen Grün. Ihre Haut hatte die Farbe eines Baumstammes und ihre Haare waren dunkelbraun. Und ihnen wuchsen keine Flügel aus dem Rücken.
Ikyo wusste nicht, welcher Rasse sie angehörte, nur, dass sie keine Kikra war, so sehr sie sich dies auch wünschte. So lange sie denken konnte lebte sie nun bei ihnen. Eines Tages, so hatten sie es ihr erzählt, hatte man sie am Waldrand gefunden, allein, noch ein Kind. Sie hatten sie aufgenommen und aufgezogen.
Nun lebte Ikyo schon 20 Jahre im Wald der Kikra. Sie liebte ihre Freunde und ihre Familie, konnte sich kein anderes Leben vorstellen, und wusste doch, dass sie nicht in diesen Wald gehörte. Sie war eine Fremde, auch wenn alle versuchten, dies zu ignorieren.
Sie war anders; und das konnte niemand ändern.
Die Kikra verbrachten ihr gesamtes Leben an nur einem Ort. Ihnen blieb nichts anderes übrig. Jede Kikra hatte einen Baum. Mit diesem Baum war sie verbunden. Starb der eine, starb der andere. War der eine krank, war auch der andere krank. Baum und Kikra waren voneinander abhängig, und je weiter sie sich voneinander entfernten umso mehr wuchs der Schmerz.
Ikyo hatte schon oft gefragt, was für ein Schmerz das sein sollte; niemand konnte es ihr beschreiben. Es war ein Gefühl, das jede Kikra davon abhielt ihren Baum zu verlassen, weiter wegzugehen als ein paar Meter.
Ikyo bemitleidete ihre Freunde wegen deren Schicksal. Sie selbst konnte gehen – oder fliegen – wohin sie wollte. Kein Baum hielt sie zurück.
Ikyo war von einer Sehnsucht erfüllt, die die Kikra nicht verstanden. Sie wollte die Welt sehen, sie wollte nicht ihr gesamtes Leben an einem Platz verbringen, sie wollte gewissermaßen frei sein. Ewig an einem Ort zu sein machte sie nicht glücklich. Sie war rastlos, wollte fliegen. Weit weg fliegen.
Schon oft hatte sie mit dem Gedanken gespielt, einfach fortzugehen, den Wald der Kikra zu verlassen. Oft hatte sie sich ein wenig Proviant eingepackt und war geflogen, immer weiter. Und doch... Sobald die Bäume des Waldes am Horizont zu verschwinden drohten, war sie umgekehrt. War dies der Schmerz, von dem die Kikra ihr erzählt hatten?
So blieb Ikyo im Wald, versuchte, ihre unerklärliche Sehnsucht zu unterdrücken.
Bei ihren täglichen Rundflügen sah sie über die Baumwipfel hinaus, malte sich aus, wie es in der Welt aussehen mochte, was für Rassen es gäbe, was für Orte sie besuchen könnte, wenn sie nur den Mut fand loszufliegen und nicht zurückzublicken.
*
Die untergehende Sonne tauchte bereits den Wald in ein orangefarbenes Licht, als Ikyo sich auf eine Waldlichtung stellte und ihre Schwingen ausbreitete. Die Zeit ihres Fluges war gekommen.
Ihre Mutter stand nahe ihres Baumes und winkte ihr zu. „Viel Spaß!“, rief sie ihr zu.
Ikyo lächelte und stieß sich vom weichen Boden ab. Die Blätter wirbelten auf. Schon nach wenigen Sekunden befand sich Ikyo über den Baumwipfeln und sah am Horizont die Sonne. Für einen Moment schloss sie die Augen, genoss das Gefühl der Freiheit, das sich immer dann in ihr ausbreitete, sobald sie sich in der Luft befand. Sie spürte den Wind, der durch ihre Kleidung blies und ihre Haare flattern ließ.
Die Augen nun wieder geöffnet, flog sie umher, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, einfach um zu fliegen. Ihre Flügel hoben und senkten sich, sie versuchte jeden Muskel in ihren Schwingen zu fühlen; sie spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut und zugleich die Frische des Abends.
Dann sah sie etwas, was sie stutzig machte.
Jemand stand am Waldrand.
Solange sie denken konnte war noch nie jemand Fremdes zwischen die Bäume getreten, abgesehen von ihr selbst. Auch die Kikra hatten nie erzählt, dass sie Besuch von anderen Rassen bekamen.
Neugierig geworden lenkte Ikyo ihren Flug auf den Fremden zu. Wer mochte das sein? Welcher Rasse gehörte er an? Ikyo kannte nur die Kikra, wusste aber, dass es tausende von anderen Völkern gab.
Nun war sie nah genug, um zu erkennen, dass der Fremde ein Mann war. Langsam setzte sie zur Landung an. Der andere schien sie endlich bemerkt zu haben, er sah zu ihr hinauf. Ikyo landete einen Schritt entfernt von ihm. „Hallo“, sagte sie fröhlich und lächelte den Fremden an.
„Guten Tag, junge Dame“, antwortete dieser. „Was tust du hier?“ Er strich mit der Hand über seinen dichten Bart.
„Ich mache meinen Rundflug. Und was tun sie hier? Wollen sie zu den Kikra? Ich kann sie hinführen, wenn sie wollen“, bot Ikyo an. Sie hatte nie gelernt misstrauisch zu sein. Warum auch? Bei den Kikra hatte ihr nie Gefahr gedroht.
„Kikra?“ Der Fremde schien nicht sehr glücklich über diese Tatsache zu sein.
Ikyo bemerkte das nicht. „Ja. Ich wohne bei ihnen“, erklärte sie stolz.
„Warum lebt eine Kazé bei den Kikra?“ Der Mann sprach mit Verwunderung in der Stimme. Und Neugierde.
Ikyo blinzelte. Was war eine Kazé? Sie stellte die Frage laut.
Der Fremde lachte. „Natürlich bist du eine Kazé!“
Ikyo strahlte. „Ich bin eine Kazé? Das muss ich sofort den anderen erzählen!“ Sie setzte schon zum Flug an, als der Mann sie am Arm packte.
„Warte doch! Kann ich dich um etwas bitten?“
„Natürlich!“
Der Mann zog aus seiner Tasche einen kleinen, grünen Edelstein heraus. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in ihm und ließen ihn glitzern und funkeln. Der Fremde verbarg das kleine Ding in seiner Faust und murmelte unbekannte Worte. Er öffnete die Hand wieder.
Ikyo war begeistert von dem Stein, der jetzt von innen heraus zu leuchten schien. Und noch begeisterter war sie, als der Fremde ihr ihn in die Hand drückte.
„Ich habe einen Zauber auf diesen Stein gelegt. Dadurch sind die Bäume deiner Kikra-Freunde besser vor Krankheiten geschützt. Du musst ihn nur in der Mitte des Waldes vergraben.“ Er lächelte sie an.
Ikyo erwiderte es und schloss die Hand um den Stein. „Vielen Dank!“ Sie verbeugte sich. „Kommen sie morgen wieder, dann kann ich sie meinen Freunden vorstellen. Sie werden ihnen bestimmt für das tolle Geschenk danken wollen.“
„Das ist sehr nett von dir. Ich komme morgen gerne wieder.“ Er verbeugte sich ebenfalls. „Mein Name ist Shinda.“
„Ich heiße Ikyo.“ Sie lächelte erneut. „Bis morgen, Shinda“, sagte sie und erhob sich in die Lüfte.
Wieder im Wald angekommen suchte sie sofort die Lichtung auf, die sich in der Mitte befand. Sie war die schönste von allen.
Auf der einen Seite plätscherte ein kleiner Bach vor sich hin, auf der anderen befanden sich unzählige Sträucher, die jetzt, in der Frühlingszeit, blühten. In der Mitte wuchs der größte Baum im ganzen Wald. Die Kikra hatten Ikyo erzählt, dass dies der Älteste von ihnen war. Ein Baum ohne Kikra. Um diesen Baum waren all die anderen Bäume gewachsen, bis sich schließlich der Wald gebildet hatte, den sie heute kannten.
Nun stand Ikyo vor eben diesem Giganten. Sie kniete vor ihm nieder und grub ein kleines Loch in den Boden; dort legte sie den kleinen Edelstein hinein. Sie lächelte. „Bald wird es allen Bäumen in diesem Wald besser gehen“, sprach sie zu sich selbst. Mit wenigen Handbewegungen füllte sie das Loch mit Erde. Sie wartete.
Einige Sekunden lang geschah nichts. Dann -
Schreie! Ikyo sah erschrocken auf. Noch nie hatte sie solche Schreie gehört.
Von Schmerz gepeinigte Stimmen riefen durch den Wald.
Ikyo sprang auf die Beine, rannte so schnell sie konnte. Schon am Rande der Lichtung sah sie, warum die Kikra allesamt so furchtbar schrieen.
Die Bäume zerfielen vor ihren Augen. Die Blätter verloren ihre Farbe, segelten zu Boden. Die Stämme wurden grau, die Wurzeln ebenso. Die Bäume starben.
Und mit ihnen starben die Kikra.
Tränen schossen in Ikyos Augen. Sie rannte.
Sie musste helfen... aber wie? Halb geblendet stolperte sie durch den Wald. Sie musste zu ihrer Mutter... Wo war ihre Mutter? Vor sich sah sie eine Kikra, die sich vor Schmerzen auf dem Boden wand.
Ikyo fiel auf die Knie.
Die Kikra vor ihr war ihre Mutter. Ihre Schreie vermischten sich mit denen der anderen.
Ikyos Tränen strömten über ihr Gesicht. „Mutter...“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
Ihre Mutter hörte sie nicht. Sie starb. Und Ikyo konnte nichts dagegen unternehmen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie wollte das alles nicht sehen. Das war nur ein böser Traum...
Sie kniete lange so da. Als die Schreie aufhörten und eine Totenstille sich über den Wald senkte, als es anfing zu regnen, als die Sonne wieder aufging.
Plötzlich hörte sie Schritte. Hoffnungsvoll sah sie auf. Es war keine Kikra. Es war Shinda.
Ikyo stand auf. Sie torkelte auf Shinda zu und fiel ihm in die Arme. „Sie sind alle tot!“, schluchzte sie.
Der Mann fuhr mit der Hand über ihre Haare. „Das tut mir Leid.“
„Wie konnte das nur passieren? Ich verstehe das nicht...“ Sie presste ihr Gesicht gegen Shindas Schulter.
„So etwas passiert nun mal...“
„Aber... warum hat dein Stein -“ Sie stockte. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Ikyo Misstrauen in sich aufkeimen. Das alles war passiert, kurz nachdem sie den Edelstein vergraben hatte. Sie ging einige Schritte rückwärts, weg von Shinda. „Was... was für ein Zauber war das, den du gesprochen hast?“
„Das habe ich dir doch erzählt.“ Er lächelte sie an. Es war ein falsches Lächeln.
„Nein... Es war der Stein. Dein Stein hat das alles hier angerichtet!“, schrie sie. Und dann kam ihr ein anderer Gedanke. Es ist alles meine Schuld. Ich habe den Stein vergraben.
„Warum?“, schluchzte sie. Die Tränen kamen erneut. Sie konnte sie nicht zurückhalten.
Shinda seufzte. „Du würdest meine Gründe nicht verstehen. Hast du schon einmal etwas von einer Stadt gehört? Von Technologie? Die Zeit der Natur ist vorbei.“
„Was auch immer diese Dinge sind, von denen du sprichst, dafür darf man nicht... Deswegen kannst du doch nicht... alle meine Freunde umbringen!“ Ikyos Augen funkelten vor Zorn. Solche Gefühle hatte sie nie zuvor gespürt.
Der Mann sah sie an. „Willst du mich umbringen?“, fragte er kalt.
Die Kazé trat einen Schritt zurück. „Umbringen?“ Sie horchte in sich hinein. Diese neuen Gefühle verwirrten sie. Da wurde ihr bewusst, dass sie Shinda töten wollte. Dieser Gedanke machte ihr Angst. Noch gestern war alles in bester Ordnung gewesen... Und heute sollte sie zur Mörderin werden?
Der Mann lachte laut auf. „Ich weiß Bescheid. Die Kazé sind ein sehr rachsüchtiges Volk. Und du bist eine von ihnen. Du willst mich umbringen.“ Er grinste. „Aber du wirst es nicht tun, habe ich Recht? Die Kikra haben dein Herz weich gemacht. Du bist keine Kazé, du bist eine Kikra mit Flügeln und ohne Baum.“
Ikyo schüttelte den Kopf. Traurig sah sie in Shindas Gesicht. „Ich habe mir immer gewünscht eine Kikra zu sein... Aber ich bin keine. Ich bin anders.“ Sie machte eine kleine Pause. „Ich will... Rache. Dafür, dass du all die, die mir etwas bedeuten, getötet hast.“
Shinda hörte auf zu grinsen. Er sah plötzlich ernst drein. „Wenn das so ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als dich umzubringen. Ich wollte dich verschonen, dir anbieten, mir zu helfen, die Stadt zu bauen. Du kannst dich geehrt fühlen. Du wirst die letzte sein, die mich zaubern sieht. Danach gebe ich die Magie auf und wende mich endgültig der Technologie zu.“
„Das ist mir völlig egal!“, schrie Ikyo. Ihre ehemals weichen Gesichtszüge wurden hart, ihre Augen bekamen einen stechenden Ausdruck.
„Du weißt nichts vom Kämpfen; wie willst du mich besiegen?“, fragte Shinda siegessicher. Er zog einen kleinen Dolch und fuhr mit dem Finger über die spiegelglatte Klinge.
Ikyo brachte ihren Körper in Kampfposition. Sie handelte nach Gefühl, ohne zu wissen, was genau sie eigentlich tat.
Shinda stellte sich ebenfalls anders hin, den Dolch in der rechten Hand haltend. Er grinste wieder.
Wie auf ein Kommando stürmten beide gleichzeitig aufeinander zu. Ikyo kämpfte mit ihren Fäusten, während Shinda mit seinem Dolch die Luft durchschnitt und dabei unablässig Worte murmelte. Ikyo verstand die Sprüche, die er von sich gab und konterte mit den Gegenzaubern. Instinktiv wehrte sie die Magie und den Dolch ab und teilte mit ihren Schlägen aus. Anfangs waren beide Gegner gleichstark. Doch mit der Zeit zeigte sich, dass – so unglaublich das auch war – Ikyo die Oberhand gewann. Sie dachte nicht über ihre nächsten Schritte nach, sie ließ ihren Körper einfach machen, ohne die Bewegungen in Frage zu stellen.
Der Kampf lief unerbittlich weiter. Beide waren erschöpft, und schon als die Kazé glaubte zu gewinnen, verletzte Shinda sie am Oberarm. Ikyo, nicht an Schmerzen gewohnt, stieß einen Laut der Verwunderung aus. Blut tropfte aus ihrer Wunde auf den von toten Blättern bedeckten Boden.
Shinda lachte auf und wollte den Kampf durch einen gezielten Stich beenden.
Ikyo sah den Dolch in der Sonne aufblitzen und reagierte instinktiv. Geschickt lenkte sie Shindas Angriff um und stieß so den Dolch in Shindas Brust.
Die Augen des Mannes weiteten sich vor Verwunderung und Entsetzen.
Ikyo ließ ihn los und sprang zurück.
Shinda keuchte, zog sich die Waffe aus der Brust, starrte auf das blutige Stück Eisen. Dann stürzte er zu Boden. Er war tot. Ebenso tot wie die Bäume um ihn herum.
Die Kazé stand vor der Leiche und sah auf sie hinab. Sie hatte es geschafft. Sie hatte all ihre Freunde gerächt. Ikyo spürte nun keinen Zorn mehr, nur Trauer. Schon wieder wollten sich die Tränen ihren Weg bannen, doch nun schaffte sie es, sie zurückzuhalten. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte genug geweint. Nun musste sie die Körper ihrer Freunde bestatten und dann – Was dann?
„Dann suche ich anderen Kazé“, nahm sie sich flüsternd vor. Ihre Stimme klang zu laut in dieser Stille.
Sie machte sich an die Arbeit. Es dauerte den ganzen restlichen Tag bis alle Kikra neben ihren jeweiligen Bäumen vergraben worden waren. Wie lange hatte es gedauert, bis alle Bäume im Wald gestorben waren? Wie lange hatten sich die Kikra in ihrem Todeskampf auf dem Boden gewälzt?
„Ich werde euch vermissen“, sprach sie, als sie sich einige Meter vom Waldrand entfernt befand. Nun wurde es Zeit, dass sie sich verabschiedete. Endgültig.
Diesmal würde sie nicht zurückkehren, diesmal würde sie den Mut aufbringen, wegzufliegen.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Auf Wiedersehen.“
Ikyo breitete ihre Schwingen aus und flog davon, dem Sonnenuntergang entgegen.
Und diesmal sah sie nicht zurück.

(c) by Karin D.

Ihr ahnt nicht, wie stolz ich damals auf mich war, eine so lange (damals fand ich das tatsächlich lang) Geschichte zu schreiben! Es ist sogar mehr oder weniger eine Fortsetzung geplant, denn irgendwo hat mich Ikyo und das Volk der Kazé nicht losgelassen.