ERROR

Der Mann zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er sie auf den harten, grauen Betonboden fallen ließ und mit der Fußspitze zertrat. Ein glimmender Funken blieb übrig, doch auch der erlosch rasch. Ein Zug sauste durch den Bahnhof und wehte Haare und Kleidung der wartenden Menge auf.
Noch einmal entfaltete der Mann das zerknüllte Stück Papier, das er in seiner geballten Faust hielt – sein Todesurteil. Der Arzt hatte ihm gesagt, er hätte noch ein paar Monate zu leben; vielleicht sogar ein bisschen länger, schließlich gab es Fälle, in denen Menschen trotz der Tatsache, dass die tödlich erkrankt waren und längst tot sein mussten, dennoch weiterlebten.
So ein Glück werde ich nie haben, dachte der Mann grimmig, zerknüllte erneut den Bogen in seiner Hand und war versucht, das Blatt zu zerreißen.
Und außerdem, dachte er weiter, was nützt es mir, doch ein wenig länger als ein paar Monate zu leben. Ich werde sterben. Ich bin schon tot.
Und plötzlich wusste der Mann, was ihn zum Bahnhof gezogen hatte, warum er nach der Todesnachricht nicht etwa nach Hause zu seiner Frau gegangen war, um ihr die schreckliche Meldung zu überbringen, sondern hier, am grauen Bahnsteig stand und seine letzte Zigarette geraucht hatte.
Durch die Lautsprecher ertönte eine Warnung, ein ICE solle gleich durchfahren, die, die nicht sterben wollen, sollen bitte zurücktreten und darauf Acht geben, nicht versehentlich auf die Schienen zu fallen.
Wie passend.
Der Mann wartete, bis der Zug, der wie eine überlebensgroße, rote Schlange aussah, in Sicht war, dann, als ihm der Moment passend erschien, sprang er. Seine Landung war alles andere als elegant; er strauchelte und fiel beinahe, konnte gerade noch sein Gleichgewicht halten – aber das war sowieso egal.
Die Schlange rückte mit rasender Geschwindigkeit näher, gleich würde ihr riesiger Maul ihn verschlingen, noch eine Sekunde –
Momente verstrichen. Die Nase des Zuges, wie harmlos er nun wirkte, verharrte vielleicht zehn Zentimeter vor dem Mann. Wut stieg in ihm auf; nicht einmal entscheiden, wie und wann er sterben sollte, durfte er! Zornig schlug er mit der Faust, die noch immer sein Urteil umfasste, auf das Rot vor ihm – seit wann waren ICEs rot?
Auf dem Bahnsteig rief ihm eine Frau zu, er habe Glück gehabt. Glücklicherweise hatten die Lautsprecher die falsche Meldung durchgegeben und zum Glück war der Strom ausgefallen, so dass der Zug angehalten hatte, bevor er ihn überrennen konnte. Was für ein Glück er doch habe, noch zu leben, wo er doch so unglücklich gestürzt und beinahe gestorben wäre.
Der Mann wollte zu einer Antwort ansetzen, als sein Handy klingelte. Er nahm ab, es war sein Arzt. Was für ein Glück, dass er ihn erreicht habe, sprach er, ein Fehler sei ihnen unterlaufen, das Gerät habe gespinnt, er habe gar keinen Tumor, es war ein Fehler, was für ein Glück er doch habe, dass dieser Fehler aufgedeckt worden war.
Es dauerte, bis der Mann die Nachricht soweit verstanden hatte, dass in sein Gehirn dieser eine Gedanke vordrang. Kein Tod.
Die Wut verwandelte sich in Glücksgefühl – wie gut, dass der Zug angehalten hatte. Er jubelte und jauchzte, sprang auf den Bahnsteig, umarmte die Frau und rannte fröhlich durch den Bahnhof und verließ diesen. Die Sonne strahlte auf ihn herab, er hörte Vögel zwitschern; er hielt sein Handy in der linken, das falsche Todesurteil in der rechten – das eine warf er lachend fort, mit dem anderen rief er seine Frau an; ich lebe!, schrie er hinein.
In seiner Euphorie lief er auf die Straße; sein Handy gab plötzlich keinen Ton mehr von sich. Während er stehen blieb und verwirrt das kleine Ding anstarrte, kam ein Auto auf ihn zu – dessen Bremsen waren kaputt.

(c) by Karin D.

Im Literaturkurs in der Schule hatten wir das Thema Satire, also habe ich diesen Text geschrieben. Letztendlich ist es weniger Satire und eher schwarzer Humor, aber wen juckt's!